Du bist ein Gott, der mich sieht. (Gen 16,13)
Gedanken zur Jahreslosung 2023
von Pfarrerin Brigitte Fenner
Liebe Geschwister,
Ich möchte mit Ihnen den roten Faden suchen. Und ich finde ihn in der Losung für das kommende Jahr. Dabei legt ein Jahreswechsel eigentlich etwas ganz anderes näher. Wir stehen an einer Schwelle – wir suchen den Aufbruch – man möchte das Alte loslassen und neue Pläne in den Blick nehmen. Ich werde dies auch tun, und mache zugleich etwas Gegenteiliges: Ich suche den roten Faden zwischen gestern, heute und Morgen. Ich halte Ausschau nach einer Kontinuität über oder inmitten aller Veränderung. Und finde sie in der Jahreslosung: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieser rote Faden zieht sich durch die ganze Bibel bis zu mir. Ich liebe diesen Satz. Er stammt aus einer Erzählung, die man sich vor drei- bis viertausend Jahren an den Lagerfeuern erzählte.
Ihre Protagonistin heißt Hagar. Sie ist eine ägyptische Sklavin im Haus Abrahams und Sarahs. Zugleich ist ihre Geschichte so etwas wie die ein „Vor-bild“ für die Weihnachtsgeschichte, die uns noch in den Ohren klingt. Hagar und Maria sind für mich Schwestern über Jahrhunderte hinweg. Sie sind auch meine Schwestern und vieler Frauen heute. Ihre beiden Geschichten haben etwas Phantastisches an sich. In ihrem „Film“ ist alles drin: Liebe, Gewalt, Flucht, Rettung. Und zugleich geht es immer schon um mehr. Die Bibel macht das so: Sie erzählt Weltgeschichten in Form von Familiengeschichten.
Hagar flieht – sie versucht sich selbst zu retten - sie läuft weg und unterschätzt den Weg durch die Wüste. Ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes gerät in äußerste Gefahr. Wir haben Angst, mit ihr zu sterben. Doch dann begegnet Hagar einem Engel, ein Bote Gottes. Er rät ihr, aufzustehen, zurückzugehen und ihr Kind auszutragen. „Du bist noch nicht am Ende“, sagt ihr der Engel. Und nennt ihr auch einen Namen für das Kind. „Du sollst ihn Ismael nennen“. Das heißt übersetzt „Gott hört“…
Die Menschen am Lagerfeuer hören in ihm Geschichten, die sie sich an anderen Abenden erzählt wurden: Sie denken an Moses, der die Israeliten aus Ägypten geführte und zu dem Gott bei seiner Berufung sprach: „Ich habe das Elend meines Volkes gehen und sein Geschrei gehört. Darum will ich es herausführen aus Ägypten und ihm ein neues Land zeigen.“ Die Menschen am Lagerfeuer staunen: Sollte Gott zu Hagar wie zu Moses sprechen?
Und die Hagar in der Erzählung staunt auch. Sie geht zurück und bekommt das Kind und erfährt für eine Weile Anerkennung und Gutes. Die Welt hat sich jedoch noch nicht weit genug gedreht. Es bleibt (noch) nicht bei einem Happy End. Ihre Herrin Sarah bekommt doch noch ein eigenes Kind – und das ist ja auch gut so - aber daraufhin ist wieder kein Platz mehr für Hagar. Die junge Frau wird vertrieben und ihre Spur verliert sich. Aber Ihre Erfahrung zählt und wird weitergetragen in neue Geschichten.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Es ist der Satz, der sich auch bei Maria wiederfindet und den roten Faden zwischen Altem und Neuem Testament weiterspinnt. Maria seufzt und betet im Magnifikat: „Gelobt sei der Herr, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen…“ Und so bekommt auch Maria ein Kind. Durch einen Engel wird auch ihr der Name für ihr Kind geschenkt: „Du sollst ihn Jesus nennen. Jeshua… das heißt „Retter“. Immer noch geht es also darum, dass Gott das Elend seines Volkes sieht und hört und dass das Leben gerettet wird. Alles beim Alten? Verändert sich nichts?
Zunächst fallen die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Frauen Hagar und Maria auf: Sie sind jung, sie sind nicht verheiratet. Beide bekommen ein Kind, das nicht von einem Mann stammt, den sie sich ausgesucht hätten. Beide gehen mit ihrer Schwangerschaft einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen. Doch nun kommt die entscheidende Veränderung von der einen zur anderen Erzählung: Marias Geschichte geht gut aus. Josef bekennt sich jetzt zu ihr, sie bekommen das Kind gemeinsam und ziehen es auf. Marias Zukunft ist tatsächlich gerettet, so wie es der Name ihres Sohnes besagt.
Hagar und Maria sind Schwestern. Bis dahin, dass auch Maria noch einmal nach Ägypten flieht, aber sie kehrt zurück. Sie soll leben. Die alte Erzählung vom Lagerfeuer wird so variiert, dass der Wille Gottes offen zu Tage tritt, jener Wille, der in seinem freundlichen Blick auf uns angelegt ist, seit alters her.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Wenn wir nun diesen roten Faden nun bis zu uns heranziehen, dann fragen wir: Was soll Gott in unserem Leben ansehen? Was ist schon gut und was soll sich unter diesem freundlichen Blick verändern? Gibt es „ein Kind“, welches ich noch bekommen soll? Und welchen Namen soll es tragen? Für was bin ich nicht zu alt (wie die Sarah) oder zu jung (wie die Maria) oder zu unverheiratet (wie die Hagar) …? Mein noch „ungeborenes Kind“ kann etwas sehr Verschiedenes sein: Ein neues Stück, das ich auf der Orgel spielen werde, eine Freundschaft, die neu wachsen darf, eine berufliche Umorientierung? Einen Ort, die nur mir geschenkt ist? Ein Lied, das in mir schlummert und geschrieben oder gesungen werden will?
Ich nehme mir Zeit für diese Fragen. Zum Jahreswechsel beantworte ich sie anders als sonst. Ich tue es unter dem Segen Gottes:
Gott segne dich und behüte dich.
Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir.
Gott erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden.
AMEN